32

 

Nikolai lächelte in sich hinein. Wie geplant hatte sein Ablenkungsmanöver schlagartig eine totale Verwirrung im ganzen Haus angerichtet. Die wachhabenden Agenten liefen in kopfloser Panik herum, mehr als einer wurde von dem Maschinengewehrfeuer getroffen, das aus allen Richtungen aus dem Wald ratterte. Aus dem dichten Astgewirr über seinem Kopf ließ Niko eine Ranke in den Wald wachsen und befahl dem schlängelnden Schössling, sich um den Abzug seiner letzten M16 zu wickeln.

Während die Ranke ihren Job erledigte, so wie auch die vorigen es getan hatten - das Gewehr im Anschlag hielt und immer größeren Druck auf den Abzug ausübte, als der zusammengerollte grüne Schössling dicker und stärker wurde -, rannte Niko auf den Seiteneingang des Hauses zu.

Es war nicht schwer, Renata zu finden. Ihre Blutsverbindung war wie ein Signalscheinwerfer für ihn, sie leitete ihn zielsicher durch den hinteren Teil des Hauses zu einer Treppe ins obere Stockwerk. Renata kam gerade herunter, Mira fest in den Armen.

Sie sahen einander an, und einen endlosen Augenblick lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Nikolai wollte ihr sagen, wie leid es ihm tat. Wie erleichtert er war, dass sie das Kind unversehrt gefunden hatte.

Es gab tausend Dinge, die er Renata in diesem Augenblick sagen wollte. Nicht zuletzt, dass er sie liebte und immer lieben würde.

 

„Beeil dich", hörte er sich selbst flüstern. „Ihr müsst hier sofort raus."

„Überall wird geschossen", sagte Renata voller Besorgnis.

„Was ist da draußen los?"

„Nur ein Ablenkungsmanöver. Ich musste mir ein paar Minuten Zeit verschaffen, um euch beide hier rauszukriegen."

Sie sah ihn erleichtert an, aber nur eine Sekunde lang.

„Fabien und die anderen ... ich habe gehört, wie sie vor ein paar Minuten nach hinten rausgingen."

„Ich kümmere mich schon um sie", sagte Niko. „Jetzt raus mit euch. Was immer passiert, bloß nicht stehen bleiben.

Bring Mira zum Wagen zurück. Der Orden müsste jede Minute hier sein."

„Nikolai." Er hielt inne, hielt Renatas unverwandtem Blick stand und hoffte, Vergebung zu finden. Oder eine Bestätigung dafür zu bekommen, dass sie ihn vielleicht, nach alldem, was geschehen war, immer noch liebte. Sie sah ihn an, und zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte. „Sei einfach ... vorsichtig."

Er nickte ihr grimmig zu und spürte nichts von seinem üblichen Adrenalinrausch vor einem Kampf. Diese Zeiten schienen für ihn vorbei. Die alten Zeiten, als nichts ihm viel bedeutete, außer dem Ruhm der Schlacht und der Triumph des Sieges, wie bedeutungslos auch das Kräftemessen war, um das es ging.

Nun war auf einmal alles andere wichtig - vor allem, was Renata anging. Ihre Sicherheit und ihr Glück waren alles, was ihm am Herzen lag, sogar, wenn das bedeutete, dass er vielleicht selbst nicht mehr dabei sein würde.

„Bring Mira zum Wagen", sagte er ihr wieder. „Und bleib in Deckung. Wir kriegen euch hier schon raus."

Er wartete, bis Renata aus dem Haus gerannt war, dann stürzte er zur Hintertür des Hauses hinaus, durch die seine Feinde geflohen waren.

 

Das Rennboot hielt gerade erst am Anlegesteg, als Dragos und die anderen den Abhang hinuntereilten. Überall im Wald und oben beim Haus rannten Fabiens Agenten kopflos herum wie Ameisen, deren Ameisenhaufen man platt getreten hatte. Gewehrsalven erleuchteten die Nacht, so willkürlich, dass man unmöglich sagen konnte, welche Schüsse die eigenen Leute abgegeben hatten und welche die Eindringlinge.

Alles, was Dragos wusste, war, dass er nicht weiter hierbleiben und warten wollte, bis der Orden oder wer auch immer kam und ihn niedermachte.

Als er und seine Leute begannen, sieh im Boot zu verteilen, verstellte Dragos Edgar Fabien den Weg.

„Für dich ist an Bord kein Platz", sagte er dem Leiter des Dunklen Hafens von Montreal. „Du hast mit deiner Dummheit schon genug Schaden angerichtet. Du bleibst hier."

„Aber ... Sir, ich ... Bitte, ich kann Ihnen versichern, dass ich Sie nicht noch einmal enttäuschen werde."

Dragos lächelte und entblößte die Spitzen seiner Fangzähne. „Nein, wirst du auch nicht."

Und er hob eine .9mm Pistole und versetzte Fabien einen Todesschuss mitten zwischen die Knopfäugen.

„Los!", befahl er dem Fahrer des Bootes und hatte Edgar Fabien bereits völlig aus seinem Bewusstsein verbannt. Der Motor brüllte auf, und das schmale Rennboot schoss hinüber zu dem Wasserflugzeug, das am anderen Ende des Sees auf sie wartete.

 

Er war zu spät gekommen, verdammt.

Niko schaltete auf seinem Weg zum See hinunter ein paar Agenten aus, aber bis er dort ankam, hatte das Rennboot einen höllischen Abgang gemacht und auf dem Wasser nur noch ein paar aufgewühlte Wellen hinterlassen. Nikolai feuerte ihm ein paar Schüsse hinterher, aber er verschwendete nur Munition. Edgar Fabiens Leiche lag auf dem hölzernen Anlegesteg. Dragos und die anderen waren schon auf halber Strecke über den See.

„Gottverdammte Scheiße."

Wut und Entschlossenheit gaben ihm Kraft, als Nikolai begann, mit der übernatürlichen Geschwindigkeit, die alle Angehörigen seiner Spezies besaßen, wenn sie sie brauchten, am Ufer entlangzurennen. Das Boot war schnell, aber die Wasserfläche war begrenzt. Irgendwann würden Dragos und seine Kumpane anlegen und auf ein anderes Fluchtmittel umsteigen müssen. Mit etwas Glück konnte er sie erreichen, bevor sie endgültig entkamen.

Er wusste nicht, wie weit er gerannt war - wohl gute anderthalb Kilometer -, als plötzlich seine Brust eiskalt wurde vor Grauen.

 Renata.

Etwas stimmte nicht. Etwas Entsetzliches war passiert. Er spürte ihre Empfindungen, als wären es seine eigenen: Sie, seine tapfere, unerschütterliche Renata, hatte Todesangst.

 Herr im Himmel.

 Wenn ihr etwas passierte ...

Nein. Das konnte er nicht einmal denken.

Jeder Gedanke an Dragos war vergessen. Nikolai fuhr herum, legte noch einen Zahn zu und betete inständig, dass er sie rechtzeitig erreichte.

 

Sie hatte den riesigen Vampir überhaupt nicht kommen sehen.

Gerade noch hatte sie sich ihren Weg durch den dunklen Wald gebahnt, mit Mira fest in ihren Armen, und schon im nächsten Moment starrte sie in das gnadenlose Gesicht und die grausamen, goldenen Augen eines riesigen Stammesvampirs, dessen nackter Oberkörper, Schultern und Arme von einem dichten Gewirr von Dermaglyphen überzogen waren.

Er war Gen Eins, das erkannte Renata instinktiv, ihre Instinkte sagten ihr auch, dass dieser Mann tödlicher war als die meisten anderen. Er war kalt wie Stein.

Ein Killer.

Entsetzen stieg in ihr auf wie eine schwarze Flut. Sie wusste, wenn sie ihre mentale Waffe einsetzte, musste sie schon sichergehen, dass sie ihn schnell erledigte, oder sie und Mira würden im selben Augenblick sterben. Sie wagte nicht, es zu versuchen, wenn Mira die Folgen ihres Versagens zu erleiden haben würde.

 Heilige Muttergottes, sie war schon so weit gekommen -  Mira lag in ihren Armen geborgen, nur noch wenige Schritte trennten sie von der Freiheit ...

„Bitte", murmelte Renata, versuchte verzweifelt, an seine Gnade zu appellieren, wenn er so was überhaupt kannte.

„Nicht das Kind. Lass sie leben ... bitte."

Sein Schweigen war nervenzermürbend. Mira versuchte, den Kopf von Renatas Schulter zu heben, aber Renata drückte ihn sanft wieder hinunter, wollte nicht, dass sie Angst bekam vor diesem Boten des Todes, den zweifellos Edgar Fabien oder Dragos selbst ausgesandt hatte.

„Ich werde sie jetzt auf den Boden stellen", sagte Renata zu ihm, nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt verstand, geschweige denn, ob er mitmachen würde.

„Lass sie ... einfach gehen. Ich bin die, die du haben willst, nicht sie. Nur mich."

Die falkenhaften, goldenen Augen folgten jeder ihrer Bewegungen, als Renata Mira vorsichtig aus ihrem Griff löste und die Füße des kleinen Mädchens auf den Boden stellte. Renata brachte ihren Körper zwischen den Killer und das Kind und betete, dass er und sein böser Meister sich mit ihrem Tod zufriedengeben würden.

„Rennie, was ist los?", fragte Mira hinter ihren Beinen, ihre kleinen Hände griffen nach den Hosenbeinen von Renatas Hose, als sie um sie herum spähte. „Wer ist der Mann?"

Der Vampir ließ seinen steinernen Blick hinuntergleiten, bis er sah, wo dieses Stimmchen herkam. Er gaffte. Langsam legte er seinen rasierten Kopf zur Seite. Dann verzog er finster das Gesicht.

„Du", sagte er, und seine Stimme war so tief, dass sie Renatas Knochenmark vibrieren ließ. Etwas Finsteres huschte über sein Gesicht. „Lass mich sie sehen."

„Nein", flehte Renata, hielt Mira hinter sich und schirmte sie mit ihrem Körper vor ihm ab. „Sie ist doch bloß ein Kind.

Sie hat dir nichts getan und auch sonst niemandem. Sie ist unschuldig."

Er schoss Renata einen so wilden Blick zu, dass er sie fast umwarf. „Lass. Mich. Ihre. Augen. Sehen."

Bevor sie sich wieder weigern konnte und bevor in ihr auch nur der Gedanke aufkam, Mira zu packen und irgendwie zu fliehen, so schnell und weit sie nur konnten, spürte Renata, wie Mira ohne zu zögern einen Schritt nach vorne trat.

„Mira, nicht..."

Zu spät, um zu verhindern, was nun geschehen würde, konnte Renata nur voller Grauen mit ansehen, wie Mira einfach um sie herumging und aufsah, hinauf zu dem harten Blick des tödlichen Gen Eins-Vampirs.

„Du", sagte er wieder und starrte angespannt in Miras süßes Gesichtchen.

Renata erkannte deutlich den Augenblick, in dem Miras Gabe einsetzte. Seine goldenen Augen wurden wild, und er starrte gebannt, als die Augen des Kindes ihm eine Zukunftsvision enthüllte. Er trat näher. Zu nah, seine mächtigen Arme waren imstande, Mira ohne die leiseste Vorwarnung zu zerschmettern.

„Nicht ...", platzte sie heraus, aber er streckte schon die Hände nach Mira aus.

„Ist schon okay, Rennie", flüsterte Mira. Sie stand so unschuldig vor ihm wie ein Kleinkind, das mitten in die Höhle des Löwen gewandert war.

Und da erkannte Renata, dass etwas Außergewöhnliches geschehen würde.

„Du hast mich gerettet", flüsterte er und legte seine riesenhaften Hände auf Miras winzige Schultern. Der Vampir fiel auf die Knie, auf ihre Augenhöhe. Als er redete, war diese tiefe, tödliche Stimme leise vor Ehrfurcht und Verwirrung. „Du hast mir das Leben gerettet. Ich hab es gerade in deinen Augen gesehen. Genau wie damals, in jener Nacht ..."

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